Kollektive der Solidarität
Wir veröffentlichen ein Gespräch mit Serhiy Movchan, einem Mitglied des internationalen Netzwerks Solidarity Сollectives (Kollektive der Solidarität): über direkte Aktion unter Kriegsbedingungen, Hindernisse für internationale Solidarität und Perspektiven für die linke Bewegung in der Ukraine.
Was sind die Solidarity Collectives? Wie sind sie entstanden?
Solidarity Collectives sind ein internationales Netzwerk von Antiautoritären Gruppen. Wir unterstützen anarchistische und antiautoritäre Kämpfer*innen sowie vom Krieg betroffene Zivilisten. SoCol existieren seit mehr als einem Jahr, viele von uns waren aber schon seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine aktiv.
Die Idee zur Schaffung des Netzwerkes entstand bei einem anarchistischen Treffen wenige Wochen vor der Invasion. Viele haben es damals nicht für möglich gehalten, dass eine Invasion wirklich stattfinden könnte. Ich habe selbst nicht daran geglaubt. Eine Gruppe von Genoss*innen haben die Bedrohung ernster genommen und einen Plan für den Fall einer Invasion entwickelt.
Als der Angriff begann, schloss sich ein Teil der Leute als antiautoritäre Gruppe den Einheiten der Territorialverteidigung an, ein anderer Teil unterstützte unsere Genoss*innen damit, Mittel zu organisieren, um professionelle Ausrüstung zu beschaffen. Fast niemand hatte Kampferfahrung, geschweige denn professionelle Ausrüstung.
Eine weitere Aufgabe war es, Verbindungen zu anarchistischen, antifaschistischen und anderen internationalen linken Bewegungen herzustellen: Unsere Vision, unsere Position zu dem, was derzeit in der Ukraine passiert, zu verbreiten, zu erklären, warum wir, Anarchisten und antiautoritäre Linke, beschlossen haben, uns aktiv am Widerstand gegen die russische Aggression zu beteiligen.
Nach dem Beginn des Angriffs begannen alle nach dem auf dem Treffen entwickelten Plan zu handeln: Einige Leute schlossen sich der territorialen Verteidigung des Obuchiw-Bezirks in der Region Kiew an, parallel dazu entstand eine Freiwilligeninitiative. Damals hieß sie Operation Solidarity; später wurde sie zu Solidarity Collectives weiterentwickelt. Zur gleichen Zeit wurde das Resistance Committee (Widerstandskommitee) gegründet. Das ist ein Zusammenschluss anarchistischer Kämpfer*innen aus den ukrainischen Streitkräften und der Territorialen Verteidigung, die auch ideologische Arbeit leisten und über unsere Positionen sprechen. Wir arbeiten gut mit ihnen zusammen, wobei nicht alle antiautoritären Kämpfer*innen, die wir unterstützen, Teil des Resistance Committees sind.
Wie sind eure Aktivitäten organisiert?
Die Collectives sind ein großes, ziemlich heterogenes Logistiknetzwerk an dem viele Gruppen und Initiativen — sowohl in der Ukraine als auch in Europa — beteiligt sind. Unsere Arbeit kann irgendwo in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz beginnen und in Bakhmut enden. In jeder Phase sind viele Menschen beteiligt, von denen wir nicht einmal alle kennen.
Unsere Schwerpunkte vor Ort liegen zum größten Teil in Kiew und Lwiw. Hauptsächlich haben wir zwei Aktionsfelder: Das erste ist die Unterstützung der Kämper*innen, die Kommunikation mit ihnen, die Bearbeitung von Anfragen, die Mittelbeschaffung, das Besorgen und die Organisation der jeweiligen Lieferungen. Der zweite Bereich ist der humanitäre. Meistens sind das Fahrten in die Frontbereiche, um Kleidung, Ausrüstung, medizinische Versorgung, Lebensmittel, Bauwerkzeuge dahin zu bringen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Wir arbeiten dabei mit Freiwilligen, den Krankenhäusern und Bezirksverwaltungen vor Ort zusammen.
Es gibt auch ein mediales Aktionsfeld, dessen Hauptaufgabe es ist, ausländische Genossen zu erreichen und ihnen unsere Position zu vermitteln, zu erklären, warum dieser Krieg nicht als Kampf zwischen zwei Imperialismen, sondern als Widerstand der Menschen gegen einen imperialistischen Aggressor verstanden werden sollte.
Wir haben damit begonnen, den Kämpfern zu helfen, und das humanitäre Aktionsfeld ist eher zufällig entstanden. Irgendwann wurden viele Dinge in das Lager in Lwiw gebracht, von denen viele nicht von den Kämpfern benötigt wurden, die aber für die Menschen in den Frontgebieten sehr nützlich sein konnten. Und natürlich haben wir damit begonnen, diese Dinge zu liefern. In letzter Zeit ist unsere humanitäre Abteilung sehr aktiv geworden. Im Durchschnitt gehen wir alle anderthalb bis zwei Monate auf humanitäre Missionen.
Hat sich die Haltung gegenüber Anarchisten und Linken in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Ausbruch des Krieges geändert?
Meiner Meinung nach hat sie sich nicht geändert. Tatsache ist, dass die Gesellschaft größtenteils nichts von der Existenz von Anarchisten und antiautoritären linken Aktivist*innen weiß. Die anarchistische Bewegung in der Ukraine ist immer noch recht schwach und marginal. Leider ist es den Anarchisten und Linken letztlich nicht gelungen, innerhalb der ukrainischen Streitkräfte eine profilierte und effektive eigene Einheit zu schaffen. Die antiautoritäre Truppe innerhalb der Territorialen Verteidigung löste sich aus äußeren Gründen auf, ohne dass ihre Mitglieder daran schuld waren. Die Kämpfer fanden sich verstreut in verschiedenen Einheiten wieder und hatten innerhalb dieser Einheiten keine politische Erkennbarkeit.
Natürlich gibt es “prominente” Leute, die es schaffen, sich in den Medien zu profilieren, aber das ändert nicht viel an der Gesamtsituation. Der Gesellschaft ist es eigentlich egal, wer genau an der Front steht, was innerhalb der ukrainischen Streitkräfte geschieht und wer welche politischen Ansichten vertritt. In einer Situation, in der es um einen Volkskrieg geht, spielt das alles keine so große Rolle. Dennoch halte ich die Anwesenheit anarchistischer Kämpfer an der Front und ihre Teilnahme an den Kämpfen für sehr wichtig. Nach dem Ende des Krieges wird die Frage “Wo warst du?” zum Schlüssel werden. Und ohne diese Menschen, ohne ihre Beteiligung, wird die anarchistische Bewegung nichts zu sagen haben. Natürlich sind die Leute nicht an der Front, um in der Zukunft irgendeinen moralischen Vorteil zu haben. Sie sind dort aus dem Ruf ihres Herzens heraus, weil sie bereit sind, sich zu opfern, um die Okkupation zu beenden. Aber “politisch” gesehen, hat die anarchistische Bewegung in der Ukraine ohne ihre Präsenz an der Front einfach keine Zukunft. Zusätzlich zu ihrer direkten Teilnahme an den Kämpfen erfüllen sie eine sehr wichtige Funktion für das Fortbestehen der Anarchisten und der Linken in diesem Land überhaupt.
Glaubst du, dass diese internationalen Solidaritätsnetzwerke auch nach dem Krieg aufrechterhalten werden können? Und werden sie in der Lage sein, die politische Landschaft der Nachkriegszeit nicht nur in der Ukraine, sondern auch außerhalb ihrer Grenzen zu beeinflussen?
Die Entwicklung und Erhaltung dieser Solidaritäts- und Kommunikationsnetze ist eine unserer größten Herausforderungen. Ein Problem dabei ist, dass es diese Netzwerke vorher gar nicht gab. Es hätte weniger Missverständnisse und mehr Unterstützung und Solidarität gegeben, hätten sie schon damals existiert. Wir arbeiten auch daran, diese Netzwerke innerhalb der Ukraine aufzubauen, wir müssen ja auch in Zukunft hier leben. Ehrlich gesagt, ist das Interesse an der ukrainischen Linken größer als in der Ukraine selbst. Hier haben die Menschen entweder viele Stereotypen über linke Ideen oder sie nehmen uns einfach nicht wahr.
Auf den humanitären Fahrten versuchen wir, dies zu ändern. Auf jeder Reise nehmen wir Kontakt mit Einheimischen, lokalen Aktivist*innen und mit Freiwilligeninitiativen auf, die bereits in der Region tätig sind. Das ist eine naheliegende Idee und eine richtige Strategie, die aber nicht immer so leicht umzusetzen ist, wie man meinen könnte. Wir haben jetzt schon das Gefühl, dass wir in einer Nachkriegszeit stärker und erkennbarer sein werden und dass die Zahl derer, die mit uns zusammenarbeiten wollen, steigen wird. Wir arbeiten übrigens auch aktiv mit den Gewerkschaften zusammen. Nach dem Krieg werden soziale und wirtschaftliche Probleme massiv auftauchen, und hoffe ich, wenn wir uns auf das besinnen, was uns ausmacht, und zwar nicht ein Krieg gegen einen Nachbarn, sondern gegen den Kapitalismus und die soziale Ungerechtigkeit zu führen, werden wir ziemlich viele Verbündete innerhalb des Landes haben.
Das Umfeld der Freiwilligen ist heute einer der wenigen Räume, in denen ein Dialog zwischen Menschen mit russischer, belarussischer und ukrainischer Staatsbürgerschaft möglich ist, anders als beispielsweise im Bereich der Kultur. Glaubst du, dass das Freiwilligenmilieu in der Lage sein wird, die Möglichkeit eines solchen Dialogs in der Zukunft, auch nach dem Krieg, zu erhalten und zu entwickeln?
Die kulturelle Szene zum Beispiel ist sehr wettbewerbsorientiert. Es ist letztlich ein Kampf um Propaganda und Diskurse. Es ist schwierig zu einer gemeinsamen Linie mit den verschiedenen Leuten zu kommen, weil sie sich gegenseitig kaum zuhören. Leider haben viele nicht mal den Wunsch, Menschen mit belarussischer oder russischer Staatsbürgerschaft als etwas anderes als Feinde zu sehen, unabhängig von ihren tatsächlichen Ansichten oder Handlungen. Bei den Freiwilligen verhält sich das ganz anders. Die Leute engagieren sich konkret und unabhängig von Staatszugehörigkeit oder Herkunft. Wir sehen den Nutzen des Handelns der anderen und verstehen, warum sie so agieren. An den Solidarity Collectives sind sowohl Belaruss*innen als auch Russ*innen beteiligt. Es gab noch nie Probleme in der Kommunikation; weder zwischen uns und ihnen, noch zwischen irgendjemand anderem und ihnen. Hier lässt sich nichts spalten. Schwer zu sagen, ob sich daraus zukünftig mehr entwickeln kann. Die Tatsache, dass die Aktivist*innen aus Russland und Belarus auf Seiten der ukrainischen Streitkräfte kämpfen ist, glaube ich, wichtiger für die Wahrnehmung in den Augen der kriegstraumatisierten ukrainischen Gesellschaft als ihre Teilnahme an Freiwilligeninitiativen. Die Nachkriegsukraine wird höchstwahrscheinlich lange eine feindliche Haltung allem Russischen gegenüber haben, inklusive Sprache und Kultur. Als Internationalist*innen und Linke werden wir natürlich versuchen dagegen anzugehen. Ich fürchte aber, dass das ein langer Weg sein wird, der viele Jahre dauern wird. Wie gesagt, es gibt keine Konflikte mit den Russen und den Belarussen, die mit uns kämpfen. Wir sind uns der Bedeutung dessen, was sie tun, sehr bewusst. Es gibt aber eine Menge anderer Probleme, hauptsächlich administrative und bürokratische, die diesen Leuten das Leben in der Ukraine schwer machen. Selbst wenn sie auf Seiten der Ukraine kämpfen, ist es für Belarussen und Russen schwierig bis fast unmöglich, Papiere zu bekommen, die sie zum Aufenthalt in der Ukraine berechtigen. Jede Reise außerhalb des Landes kann für sie eine Einbahnstraße werden. An den Kontrollpunkten werden sie mit erhöhter Aufmerksamkeit überprüft, hierzu können sie auch auf die Polizeiwache gebracht werden. Und natürlich werden ständig fremdenfeindliche Witze über sie gemacht. Aber das ist eine Kleinigkeit den Schwierigkeiten gegenüber, die ihnen der ukrainische Staat macht, indem er ihnen jegliche legale Tätigkeit verwehrt. Sie gelten dann als Freiwillige, was bedeutet, dass sie keinen Vertrag, kein Gehalt und keine soziale Sicherheiten haben im Vergleich zu den Kämpfer*innen, die im selben Graben liegen und dieselben Angriffe durchführen. Oft haben sie nicht mal eine Bankkarte und schweben in ständiger Gefahr, abgeschoben zu werden. Einem unserer Genossen ist das vor kurzem fast passiert, er hatte aber Glück und ist nun Freiwilliger bei den Streitkräften der Ukraine.
In deiner Antwort auf eine frühere Frage hast du bereits Missverständnisse und Hindernisse in der Solidarität erwähnt. Kannst du uns mehr über diese Probleme erzählen?
Die Arbeit ist nur durch internationale Solidarität möglich. Unsere Initiative besteht, weil wir von Genoss*innen aus der ganzen Welt aktiv unterstützt werden. Klar ist aber auch, dass wir nicht von der kompletten anarchistischen oder linken Bewegung in Europa unterstützt werden. Wir sind in einer Blase mit Leuten und Organisationen, die uns aktiv unterstützen, die uns Geld oder Stuff schicken, die uns zu verschiedenen Veranstaltungen, wie Vorträgen oder Diskussionen einladen, usw. Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, es geht von Polen, wo uns fast alle unterstützen, bis hin zu Griechenland und Spanien, wo wir nur von einer Minderheit unterstützt werden. Deutschland sticht hier heraus, die anarchistische und linke Bewegung ist in Bezug auf den Krieg in der Ukraine sehr gespalten. Wir werden von verschiedenen Organisationen, Initiativen und einzelnen Menschen in Deutschland stark unterstützt, andere Teile der Bewegung sind uns sehr negativ gegenüber eingestellt. Klar ist, dass ein überzeugter Stalinist fast unmöglich umgestimmt werden kann, genauso wie es unmöglich ist, überzeugte Putinversteher umzustimmen. Aber es gibt noch eine große Gruppe, denen nicht klar ist, was in der Ukraine passiert. Ich war am Jahrestag der Invasion in Deutschland und ich habe gesehen, wie interessant und wichtig für viele Leute es ist, uns zu treffen. Sie haben keine klaren Vorstellungen von unserer Realität und versuchen, sich ein Bild davon zu machen. Auch das ist ein Teil unserer Arbeit. Ausführliche Gespräche ohne Beschönigung des ukrainischen Staates, mit ehrlichen Fragen und ehrlichen Antworten helfen den Menschen zu verstehen, warum wir unsere Position eingenommen haben, und überzeugt sie oft davon, sich auf unsere Seite zu stellen.
Herzlichen Dank an A.L.E./Anarchist Solidarity, David Levertov und Stas Serhiienko für ihre Hilfe bei der Vorbereitung und dem Bearbeiten des Interviews.