Interview mit René Perraudin
René Perraudin ist einer der vielseitigsten Regisseure des deutschen Films. Der dffb-Absolvent hat zahlreiche Kurzfilme gedreht, von denen viele zu einem Spielfilm verarbeitet wurden, “Z.B. … Otto Spalt” mit Otto Sander, dem Engel in Wenders' Film “Himmel über Berlin”. Im folgenden Interview spricht René Perraudin über die Beweggründe für seine Arbeit, von denen sich viele Filmemacher der Zukunft etwas abschauen können.
Erzählen Sie uns von Ihrem Weg zum Film. Sie kommen aus Frankreich, aufgewachsen sind Sie in Freiburg. Wie haben Sie sich für die dffb entschieden?
Als ich 5 war, zog meine Familie von Paris nach Freiburg, wo ich bis zum Abitur 1966 lebte. Schon von früher Jugend an faszinierte mich die Fotografie. Ich verbrachte zahllose Stunden in der Dunkelkammer, die ich mir in einer ehemaligen Kellerwaschküche eingerichtet hatte. Um mir Geräte und Material leisten zu können, besserte ich mein Taschengeld durch kleine Fotoaufträge auf, auch entwickelte die Filme meines Bekanntenkreises, machte Abzüge etc. Aber wofür ich mich wirklich begeistern konnte, waren fotografische Experimente: Fotogramme, Light Painting, Positiv/Negativ-Überlagerung, Solarisation… Ich sah mich als künstlerischer Erfinder, nicht wissend, dass schon sehr lange vor mir mit diesen Verfahren experimentiert wurde.
Vom Studium und späteren Beruf hatte ich insofern klare Vorstellungen, als darin meine beiden Interessenschwerpunkte, Kunst und Technik, zusammengeführt werden sollten. In Frage kamen Fotografie und Architektur. Ganz pragmatisch entschied ich mich für Letzteres, denn fotografieren könnte ich weiterhin jederzeit auch ohne Studium, Gebäude errichten allerdings nicht. Also studierte ich an der TU Stuttgart Architektur.
Im 6. Semester, ich hatte gerade mein Vordiplom gemacht, stieß ich in der Stuttgarter Zeitung auf einen Artikel über die dffb in Berlin. Dort könne man sich gerade bewerben, 18 Studenten pro Jahrgang würden aufgenommen, allerdings bei ca. 800 Bewerbungen. Rein zum Spaß wagte ich den Versuch, ohne wirklich an eine Chance zu glauben. Doch tatsächlich winkte mir das Glück, und da stand natürlich fest: ich ziehe nach Berlin. Dort begann ich 1970 mein Filmstudium, gehörte also zum 4. Jahrgang nach der dffb-Gründung 1966.
Sie haben bei Michael Ballhaus und Helmut Herbst studiert. Wie haben die beiden Sie beeinflusst?
Beide waren für mich Vorbilder, von denen ich viel gelernt habe, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise. Michael empfand ich nie als Lehrer, er unterrichtete nicht als Allwissender, sondern begab sich auf Augenhöhe mit seinen Studenten. Er nahm uns mit zu seinem elterlichen Schloss Maßbach, dem Sitz des renommierten Freilichttheaters. Dort machten wir in einem Hühnerstall unsere ersten Kameraübungen.
Vor allem ab er zeigte Michael uns viele Filme, die er hinsichtlich der Bildgestaltung für besonders hielt, gelegentlich auch einige von ihm gedrehte, ich erinnere mich besonders noch an “Whity” von R.W. Fassbinder. Er sagte aber nie etwas dazu, sondern überließ es uns, Fragen zu stellen oder Anmerkungen zu machen. Sein häufigster Kommentar war dann ein karges:
“Ah ja? Interessant”.
Einmal führte er uns einen seiner absoluten Favoriten vor: “Le Samouraï” (“Der eiskalte Engel”) von Melville. Eine Einstellung darin elektrisierte mich: Alain Delon im Zimmer mit seinem Kanarienvogel. Der Vogel im Käfig war in fester Einstellung zu sehen, aber der Raum drumherum verändert sich auf ganz seltsame Weise. Ich sprach Michael darauf an und äußerte meine Vermutung: eine Kamerafahrt auf den Vogel zu, mit gegenläufigem Zoom, der die Fahrt aufhob und zur festen Einstellung werden ließ, allerdings mit perspektivischer Veränderung. Da sah ich Michaels Augen leuchten, ich fühlte mich bestätigt und wusste: Kameraarbeit, das ist mein Ding.
Helmut Herbst war für mich ein Geschenk. Er war ein Besessener, der drei Tage und Nächte am Stück in seinem Trickstudio durcharbeiten konnte, um eine filmische Idee umzusetzen, ein Bastler und Fummler, dabei aber auch ein Visionär. Seine Art zu arbeiten faszinierte mich, entsprach sie doch genau meinen Ambitionen. Mit Helmut besprach ich meine Projekte nicht nur in filmtechnischer, sondern auch in dramaturgischer Hinsicht. Ich hatte das Gefühl, von ihm mehr lernen zu können als von den Dozenten, deren Schwerpunkt auf Drehbuch und Regie lag.
Mit Herbst haben Sie den Science-Fiction-Film “Die phantastische Welt des Matthew Madson” gemacht, da war auch Klaus Wyborny…
Durch die enge Zusammenarbeit mit Helmut ergab es sich, dass er mich fragte, ob ich bei seinem neuen Projekt mitmachen wolle. Ich sagte natürlich begeistert zu. In der Stabliste und im Abspann werde ich zusammen mit Rolf Deppe als Kameramann genannt. Das ist viel zu hoch gegriffen, denn ich war Kameraassistent und führte gelegentlich die zweite Kamera, aber Rolf, ein überaus großzügiger Mensch, dem ich viel anfängliche Praxiserfahrung verdanke, wollte es unbedingt so.
Mit Klaus Wyborny hatte ich eigentlich wenig zu tun. Er war am Drehbuch beteiligt, also noch bevor in das Projekt einstieg, und er hatte einen kleinen Auftritt als Darsteller. Ich nahm ihn als freundliche Person wahr, immer mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Wenn er etwas sagte, verstand ich meistens nicht, was er meinte. Wahrscheinlich schwebte er intellektuell in fünffach höheren Sphären als ich.
Ihr erster Kurzfilm, der auch in dem Spielfilm “Z.B. Otto Spalt” zu finden ist, ist “Phantom”, für den Sie und Uwe Schrader den Silbernen Bären gewonnen haben. Haben Sie zusammen studiert? Was halten Sie von seiner “Arbeitstrilogie”?
Vor “Phantom” hatte ich bereits mehrere kleine Filme gedreht, aber “Phantom” war der erste aus der Reihe der Kurzfilme, die später zu Episoden von “z.B. Otto Spalt” werden sollten.
Als Uwe Schrader 1976 sein Studium an der dffb begann, war ich Kameradozent, und er war einer meiner Studenten. Wir verstanden uns gut, und als ich 1979 das Projekt “Phantom” anging, fragte ich ihn, ob er mitmachen wolle. Wir haben den Film dann gemeinsam produziert.
Uwes Filmtrilogie begann mit seinem dffb-Abschlussfilm “Kanakerbraut”, es folgten dann “Sierra Leone” und “Mau Mau”. Es sind harte, dokumentarisch wirkende Spielfilme aus Randgruppenmilieus, die ich beeindruckend fand. Allerdings gingen seine und meine Interessen in unterschiedliche Richtungen, weshalb wir die Zusammenarbeit dann nicht fortsetzten.
In den Schlusstiteln von “Phantom” stehen Helmut Herbst, Franz Walsh (= Fassbinder?), Harun Farocki — wurden deren Gesichter nach Otto Sanders Gesicht gefilmt oder standen sie hinter der Kamera?
Helmut Herbst lieh mir seine Stimme. In der Einstiegssequenz erklärt der Regisseur aus dem Off dem ersten Passanten (Otto Sander), was er zu tun habe. Bei der Fertigstellung des Films gefiel mir meine Stimme nicht, und ich bat Helmut, der eine sehr besondere Stimme hatte, den Off-Text des Regisseurs im Synchronstudio neu einzusprechen.
Harun hatte ich die erste Grundidee des Films erzählt, und da er die toll fand und mich bestärkte, habe ich ihn in den Abspann mit aufgenommen. Die Namen der 5000 Passanten, die da durchrattern, waren größtenteils fiktiv, und so fand auch “Franz Walsh” seinen Platz.
Ich denke, Sie interessieren sich für die Interferenzen des Films, in denen das Medium Kino selbst spürbar wird (ist das nicht das, worauf Rolf Zachers ganze Reportage abzielt?), die verschiedenen Grenzsituationen innerhalb des Films, die schon auf die Fehler der Realität selbst hinweisen (Montage wie der Mord in “Der Mord mit der Schere”). Ist das nicht die Idee des Kurzfilms “Rückwärts”: Warum sonst sollte man rückwärts filmen und dann rückwärts scrollen, um die Unnatürlichkeit der Bewegungen einzufangen und Zweifel an der Realität des Geschehens zu wecken?
Ich mag es, mit dem Medium zu spielen. Dabei gehe ich meist ganz unbefangen, ja naiv vor. Statt mich von einer Theorie leiten zu lassen, folge ich einem handwerklichen Impuls. Am Anfang steht die Lust, mit filmischen Mitteln zu experimentieren: Einzelbilder, Mehrfachbelichtungen, Spiegelung, Zeitumkehrung, all das kann als Ausgangspunkt dienen. Und während ich mich damit beschäftige, springt mir dann plötzlich eine Idee entgegen, die aus diesem Experimentieren eine Geschichte entstehen lassen. Das war z.B. bei “Phantom” der Fall, oder auch bei “Rückwärts”.
Oder umgekehrt, ich nehme mir etwas sehr Komplexes als Ausgangspunkt, ein Filmgenre mit all seinen Chiffren: “Bulette Pauli” steht für Horrorfilm. “Close Up” für Science-Fiction. “Der Mord mit der Schere” ist ein Krimi, bzw. vom Stil her eher eine Detective story. Und dann beginne ich, damit zu spielen, treibe die Klischees auf die Spitze und schaue, was mir dabei für Ideen kommen.
Besonderen Spaß bereitet es mir, das Medium sich selbst referenzieren zu lassen, bis es in sich kreist, bis hin zur vermeintlichen Absurdität. Wobei die Absurdität sich als konsequente Deklination dessen erweist, was Realität in einem Film ist oder nicht ist. Besonders augenfällig wird das in “Der Mord mit der Schere”, aber auch die gesamte Rahmenhandlung von “z.B. Otto Spalt” ist selbstreferenziell. Otto stellt dem Gremium seine bisherigen Kurzfilme vor, in der Hoffnung, dadurch seinen Langfilm “z.B. Otto Spalt”, den wir gerade sehen, finanzieren zu können. Mein Umgang mit dem Medium Film lässt sich hier vielleicht vergleichen mit dem, was M. C. Escher im Bereich der bildenden Kunst gemacht hat.
Wie ist “Rückwärts” mit “Vorwärts” verwandt, ist es eine Art Remake?
Ja, “Vorwärts” ist mein eigenes Remake von “Rückwärts”. Die ARD-Unterhaltung wollte sich 1990 beim “Rose d’Or"-Festival in Montreux einmal nicht mit den üblichen Comedies präsentieren, sondern mit etwas “Besonderem”. Der Programmdirektor hatte sich an “Rückwärts” erinnert, den er 10 Jahre zuvor im SFB gesehen hatte. Die neue Version beruhte auf der gleichen Idee, aber die Geschichte wurde abgewandelt und erweitert.
Wie wurden diese beiden Filme gedreht — die Schauspieler spielen auch rückwärts, der Film ist auch zurückgespult, aber… in die andere Richtung? Es ist ein bisschen schwindelerregend. Will man damit sagen, dass die Welt verrückt werden kann und der Einzelgänger zwar recht hat, sich aber dem allgemeinen Wahnsinn beugen muss, während die Tiere das nicht tun?
Gedreht wurde mit rückwärts laufender Kamera. Der Hauptdarsteller spielte die gesamten Bewegungsabläufe rückwärts und begann jede Einstellung mit ihrem Ende. Das führt dazu, dass er bei der Vorführung des fertigen Films mit normal vorwärts laufendem Filmprojektor als Einziger vorwärts agieren, während die gesamte Welt um ihn herum rückwärts funktioniert. Wie ich bereits erwähnte, ging es mir zunächst um die Umsetzung einer handwerklichen Idee mit all ihren kniffligen Implikationen. Unter dieser Prämisse entwickelte ich ein Drehbuch. Dass die Geschichte zur Parabel mit einer gesellschaftskritischen oder vielleicht sogar philosophischen Dimension wurde, ergab sich quasi von selbst. Ein Grundsatz lautet: der Inhalt bestimmt die Form. Bei mir ist es meist umgekehrt, ich entwickle aus der Form den Inhalt.
In dem Film “Z.B. Otto Spalt” tauchen Kurzfilme mit Otto Sander in der Titelrolle auf, und in den durchgehenden Intermezzos neben ihm auch Alfred Edel und Rolf Zacher…
Der Film setzt sich aus 5 Kurzfilmepisoden und einer Rahmenhandlung zusammen. Die einzelnen Kurzfilme entstanden im Laufe von 10 Jahren. Jeder wurde zunächst einzeln im Kino und Fernsehen ausgewertet, und die Erlöse flossen in die Finanzierung des nächsten Kurzfilms. Da feststand, dass das Endergebnis ein langer Kinofilm mit durchgängiger Handlung sein sollte, spielte Otto Sander durchgehend die Hauptrollen, und in der Rahmenhandlung dann schließlich seine sechste Rolle.
Alfred Edel war für mich die Traumbesetzung für den Jury-Vorsitzenden. Ich kannte ihn vor allem aus den Filmen von Alexander Kluge, hatte ihn aber schon während des Studiums bei Dreharbeiten kennengelernt, bei denen ich als Kameraassistent dabei war. Die Mischung aus Autorität und Verschrobenheit, die er wie kein Zweiter verkörpert, entsprach genau der Figur des Dr. hc. Kohlhammer. Eine weitere ultimative Besetzung war Rolf Zacher für den Reporter Schnellwind. Er sollte etwas schmierig und halbseiden sein, oberflächlich und von sich selbst eingenommen. Ich kannte ihn u.a. aus dem Film “Schwarzfahrer” meines Studienfreundes Manfred Stelzer.
Der Film wurde 2017 restauriert. Ist dies Ihr einziger Spielfilm, der so viel unterschiedliches Material beherbergt?
Die Digitalisierung und Restaurierung des Films waren für mich ein echtes Erlebnis. Ich habe über mehrere Tage an dem gesamten Prozess teilgenommen. Durch die sorgfältige Arbeit der Firma Postfactory wurde die Qualität, gemessen an den analogen 35mm-Filmkopien, deutlich gesteigert.
Das Experiment, viele sehr unterschiedliche Episoden zu einem langen Film werden zu lassen, habe ich nicht wiederholt. Ich glaube, der Reiz wäre verloren gegangen. Vielleicht macht sich mal jemand anderes an ein vergleichbares Konzept, allerdings müsste es dann eine ganz andere Herangehensweise sein.
Der Aufbau des Films “Z.B. Otto Spalt” ist ähnlich wie der von “Parallelstraße”: Mehrere Kurzfilme werden durch eine Diskussion verbunden, Sie haben die 189. Sitzung des “Filmprojektprüfungshauptausschusses”, Ferdinand Khittl hat eine “Jury”, die das Gesehene unter Androhung der Hinrichtung interpretieren muss. Wie sind Sie auf diese Form gekommen, haben Sie sich auf den Film “Parallelstraße” gestützt? Waren die Filmförderkommissionen wirklich so inkompetent?
Ich muss gestehen, dass ich weder Ferdinand Khittl, noch seinen Film “Parallelstraße” kenne. Um diese Bildungslücke zu schließen, habe ich mir die DVD bestellt, die, wie ich recherchiert habe, in der Edition Filmmuseum 47 erschienen ist. Aus der Beschreibung entnehme ich, dass eine Jury 16 dokumentarische Filmausschnitte bewerten muss. Es gibt also eine gewisse Ähnlichkeit im Aufbau, ich vermute aber, dass Khittls Film strenger und deutlich ernster gemeint ist als meiner.
Selbstverständlich ist die Inkompetenz meines Gremiums satirisch überspitzt, oft bis hin zum Kalauer. Der fiktive Ausschuss ist ein Mix aus Filmfördereinrichtung (wie die FFA), Filmbewertungsstelle (wie die FBW) und zensurähnlicher Instanz (wie die FSK). Aber tatsächlich kritisiere ich die Zusammensetzung der Gremien, wie sie damals üblich waren: eine als pluralistisch bezeichnete Ansammlung von Vertretern aus Filmwirtschaft, Fernsehsendern, Kirchen, Gewerkschaften und politischen Parteien, deren Streben nach einem gemeinsamen Nenner jedes innovative Projekt im Keim erstickten musste. Eine Einigung ließ sich am einfachsten mit unverfänglichen Literaturverfilmungen erzielen.
Sie haben einen Film mit dem Titel “Ein Fall für Otto Spalt” gedreht, in “Der Mord mit der Schere” ist es wieder Otto Sander als Inspektor Otto Spalt, und in “Close Up” ist es Professor Spalt. Ist diese Figur, Otto Spalt, Ihr Alter Ego, Ihr deutsches Ich?
Aus “Ein Fall für Otto Spalt”, so der Kurzfilmtitel, wurde im Langfilm die Episode “Bulette Pauli”. Der Name Spalt zieht sich durch alle Hauptfiguren, lediglich in “Rückwärts” hat der Protagonist einen vorwärts/rückwärts-symmetrischen Namen, er heißt Otto Trebert, beziehungsweise treberT ottO.
Ja, Otto Spalt ist so etwas wie mein Alter Ego. Er ist ja der Macher der Kurzfilme, die er dem Gremium vorstellt, mit all den Nöten und Hoffnungen, die auch mir nicht unbekannt waren.
Sie haben oft Otto Sander, Udo Samel und Katharina Thalbach gefilmt, mit denen Sie zwei Bundespreisen für “Rückwärts” und “Close Up” gewonnen haben. Waren Sie miteinander befreundet? Bitte erzählen Sie uns von dieser Zusammenarbeit.
Mit Otto entstand natürlich eine Freundschaft über die 10-jährige Zusammenarbeit. Mit der Zeit war er ein so renommierter und gefragter Schauspieler geworden, dass seine regulären Gagen meine Etats gesprengt hätten. Aber da er seine jeweiligen Rollen mit so viel Freunde, Engagement und Überzeugung spielte, trat der finanzielle Aspekt in den Hintergrund.
“Z.B. Otto Spalt” war der Film, den er bei seinen zahlreichen Ehrungen mehrfach für das Begleitprogramm auswählte, so z.B. 2008 bei der Verleihung der Berlinale Kamera für sein Lebenswerk.
Auch mit Katharina Thalbach und Udo Samel verstand ich mich sehr gut, wenngleich diese Begegnungen sich auf die Zeiträume der Dreharbeiten beschränkten. Überhaupt empfand ich es als großes Glück, mit so außergewöhnlichen Schauspielern zusammenarbeiten zu können.
Bei keiner der Besetzungen für die ca. 20 tragenden Rollen hätte ich im Nachhinein anders entschieden.
Es war keineswegs selbstverständlich, dass Schauspieler dieses Kalibers bei Gagen unterhalb ihres Marktwertes überhaupt zusagten. Dass sie dann auch noch mit so unglaublichem Einsatz spielten, war ein unglaubliches Geschenk.
In “10 Minuten Berlin” spielt mein Lieblingsschauspieler Marquard Bohm mit. War er für Sie der Geist des Neuen Deutschen Films? Wie Christof Wackernagel, einst der Star des Films “Tätowierung”?
Marquard Bohm kannte ich aus Filmen von Johannes Schaaf, Rudolf Thome, R.W. Fassbinder, seinem Bruder Hark u.a. Seine Rolle hatte ich ihm auf den Leib geschrieben. Hätte er nicht zugesagt, hätte ich die ganze Sequenz gestrichen.
Christof Wackernagel war als ehemaliger RAF-Terrorist ein Jahr zuvor aus der Haft entlassen worden. “10 Minuten Berlin” war nach 12 Jahren Abstinenz seine erste Filmarbeit, eine ganz kleine Rolle, für ihn aber die Wiederaufnahme seiner Filmkarriere und der Einstieg in einen neuen Lebensabschnitt.
Sie waren bei Ihren Filmen oft gleichzeitig Kameramann, Regisseur, Editor und Produzent. Ist es für Sie selbstverständlich, alles selbst zu machen? Meinen Sie nicht, dass ein so vielseitiger Künstler gezwungen ist, nicht von dieser Welt zu sein?
Es war die Zeit der Filmemacher, als ich mein Filmstudium an der dffb anfing. Mein Ideal war es, in allen oder nahezu allen künstlerischen, handwerklichen und organisatorischen Disziplinen brillieren zu können. Aus heutiger Sicht eine größenwahnsinnige Haltung, bei der der Grat zwischen Genialität und Dilettantismus recht schmal ist. Während sich die meisten nach dem filmischen Studium Generale, wie es damals an der dffb angeboten wurde, spezialisierten, wollte ich mich nach wie vor vielseitig betätigen, allerdings nicht mehr als alleiniger Tausendsassa, sondern mit wechselnden Rollen bei den unterschiedlichen Projekten. Meine Filmproduktion war Anlaufpunkt für viele Freunde und Kollegen, zumal sie eine komplette Ausstattung mit Kameras, Licht, Tontechnik, Schneideräumen etc. bot. Wir arbeiteten in flachen Hierarchien, und unsere Projekte, größtenteils Auftragsproduktionen, waren sehr vielfältig — Fernsehspiel- und Dokumentarfilme, Industriefilme, institutionelle Filme, und das damit verdiente Geld gab den nötigen Spielraum für frei finanzierte Arbeiten. Mein Kernteam bestand aus vier Freunden, je nach Bedarf wurden projektbezogen weitere Mitarbeiter hinzugezogen. Insgesamt waren wir alle recht praktisch veranlagt, und wenn wir hin und wieder von der Muse geküsst wurden, blieben wir doch “von dieser Welt”, wie Sie es nennen.
Was haben Ihre Filme mit dem Neuen Deutschen Film zu tun? Wann ist er Ihrer Meinung nach zu Ende?
Der Neue Deutsche Film wurde 1962 mit dem Oberhausener Manifest ausgerufen (verlesen von Ferdinand Khittl, wie ich inzwischen weiß), aber wann endete er? Mit seiner Kommerzialisierung? Mit dem Aufkommen von neuen Generationen, wie z.B. der Berliner Schule? Mit dem natürlichen Altern seiner damals jugendlichen Protagonisten? Ich weiß es nicht. Wenngleich es immer wieder zu Berührungen mit expliziten Vertretern dieses Neuen Deutschen Films kam, hatte ich nie das Bestreben, mich in einer solchen Schublade einzurichten. Vielleicht bin ich nicht deutsch genug.
Peter Rempel, 2023